6. Oktober 2016, 18:15
Ich frage mich, ob es für Rainbow irgendeinen Sinn ergeben hat, als sich die Türe der Transportbox öffnete und sie in ihren Wald, satt auf Gitterstäbe blickte. Die folgenden Minuten zeichneten sich durch Zögern aus: Sie schnüffelte am Inneren sowie der Decke der Transportbox, als wollte sie nur wiederwillig gehen. Dann sog sie ruhig, doch eindringlich die Luft des mystischen Waldes ein.
Bereits einige Minuten später wagte sie sich langsam aus der Box heraus. Sie verharrte davor, um sich eingehend umzusehen. Immer wieder warf sie auch der Box einen prüfenden Blick zu. Es wirkte nahezu, als würde sie nun das sie frei war, Sicherheit aus dieser ziehen.
Wir wagten kaum zu Atmen, als wir sie aus sicherer Distanz beobachteten. Wohin mochten sie ihre drei gesunden Tatzen künftig führen? Würde ihr rechtes, bis zur Hälfte amputiertes Vorderbein ein Hindernis darstellen, jetzt da sie frei war? Hoffentlich nicht.
Seit wir sie vor vier Wochen aus der Drahtschlinge in den Bergen von Peng Zhou befreit hatten, war dieser Jährling eine wilde kleine Bärin geblieben. Ihre nekrotisch entzündete Tatze war zu unserem Leidwesen von der Schlinge irreparabel beschädigt. Gemeinsam mit der Tierarztassistentin Wendy und dem Praktikanten Max, nahm Veterinärin Sheridan die unumgängliche Amputation vor. Danach begann eine Zeit der nicht abbrechen wollenden E-Mails und Skype-Telefonate. Wir beratschlagten uns sowohl mit Biologen als auch Experten aus China und den USA:
Dave Garshelis, Co-Vorsitzender der Bären-Spezialisten-Gruppe des IUCN hat mehr als 30 Jahre Erfahrung in seiner Fachdisziplin und leitete bereits entsprechende Studien in Asien und Nordamerika. Ebenso qualifiziert und bewährt ist der Biologe und Bären-Experte John Beecham. Er berät in Auswilderungsbelangen weltweit. Liu Fang, ein chinesischer Biologe und Spezialist für Bären – insbesondere im Bereich der Populationsstudien zu Asiatischen Schwarzbären in China – arbeitete sowohl im In- als auch Ausland an relevanten Untersuchungen.
Nach der Rettung: Rainbow erholt sich von der OP.
Alle der genannten Experten stimmten darin überein, dass wir Rainbow in die Freiheit entlassen sollten. Sie ist in guter körperlicher Verfassung, verfügt bereits über ihre bleibenden Zähne und hat – mit oder ohne Mutter – die letzten Monate überlebt. Selbst mit der amputierten Pranke sind wir äußerst zuversichtlich, dass sie sich, als Teil einer zähen und robusten Art, in Freiheit durchsetzen wird – ebenso wie es zuvor viele andere Tiere unter ähnlichen Umständen auf der ganzen Welt taten.
Während ihrer Erholungsphase bei uns zeigte sich Rainbow wild und aufbrausend. Wir versuchten, ihren Kontakt zu Menschen auf ein Minimum zu reduzieren. Verschiedene Varianten natürlichen Futters wurden leise zu unterschiedlichsten Zeiten und in abweichender Menge zu ihr gebracht. Den Boden legten wir mit organischem Untergrundmaterial wie getrockneten Blättern aus. Davon abgesehen, bemühten wir uns, Rainbow so weit wie möglich sich selbst zu überlassen.
Diese Behandlung ist weit von dem entfernt, wie wir uns gewöhnlich den geretteten Bären gegenüber verhalten. Es schmerzte uns, zu ihr so distanziert zu sein – aber es war nötig. Keinesfalls sollte sie Menschen mit Annehmlichkeit und Futter in Verbindung bringen.
Um Rainbow über die nächsten drei Monate hinweg verfolgen zu können, besorgten wir ein GPS-Halsband. Die Beamten der Fortschutzbehörden von Chengdu und Peng Zhou unterstützten uns im Vorhaben, Rainbow etwas entfernt von der Stelle, an der wir sie fanden, freizulassen. Sie informierten uns darüber, dass Rainbows Falle ein Relikt aus der Zeit vor dem Schutzgebiet war und das gesamte Areal nach weiteren Exemplaren untersucht wurde. Die letzten Wilderer hatte man zwei Jahre zuvor gesehen und direkt strafrechtlich verfolgt. Sollte Rainbow hier also erneut in eine Falle geraten, müsste sie ein großer Pechvogel sein.
Dank all der Ratschläge die wir erhielten und überdachten, trafen wir die Entscheidung zu Rainbows Freilassung letztendlich einhellig. Daher bereiteten wir sie für einen kurzen letzten Gesundheitscheck vor, in dessen Zuge auch das GPS-Halsband angepasst werden sollte.
Wie bei allen großen Plänen traf jedoch das unerwartete ein: Während Rainbow in der Narkose schlummerte, ermittelten Sheridan und Wendy einen gebrochenen Eckzahn. Diskussionen innerhalb des Teams folgten und wir trafen die Entscheidung, dass der Zahn gezogen werden sollte. Anderenfalls würde sich die bereits vorhandene Infektion verschlimmern. Unsere Tierärztin nahm die Zahnextraktion vor und mithilfe des Bärenmanagers Ryan – der bereits mit derartigen Geräten in Afrika arbeitete – passte man das GPS-Band an. Auf dem Weg in die Berge erholte sich die junge Bärin.
Als wir an Höhe gewannen, kam es zu einem noch ernsteren Problem: das GPS-Halsband funktionierte nicht mehr richtig. Es konnte die nötigen Signale in den Bergen von Peng Zhou nicht empfangen. Erneut riefen wir den Biologen John Beecham in den USA an. Er riet uns, das Halsband ganz zu entfernen. Denn es bestand die Gefahr, dass der Lösungsmechanismus in drei oder vier Monaten ebenfalls nicht funktionieren würde. Dass sich das Band in einigen Monaten löste, war jedoch aufgrund des kommenden Wachstums der Bärin unumgänglich. Ihr Hals würde anderenfalls einfach zu dick für das Band – das Risiko daran zu ersticken, war zu groß.
Es war bereits zu spät, um sie wieder mit zurückzunehmen und ein neues Halsband zu bestellen. Denn bis zu dessen Eintreffen wären Wochen vergangen. Uns stand demnach eine weitere schwere Entscheidung bevor: Jene, Rainbow ohne GPS und somit ohne jegliche Überwachungsmöglichkeit in die Wildnis zu entlassen. Schweren Herzens betäubten Sheridan und Wendy die Bärin, entfernten das GPS-Band und positionierten sie für die Freilassung.
Ob Rainbow beim Aufwachen realisierte, dass die Menschen, die sie behutsam in die Transportbox gelegt hatten, nicht der Feind oder Gegner waren? Wir werden es nie erfahren. Doch wir alle (die Beamten der Peng Zhou Forstschutzbehörde, Boris, Sheridan, Wendy, Max, Saladin und ich) hielten den Atem an, als Rocky an dem Seil zog, das den Türöffnungsmechanismus auslöste und somit Rainbow den Weg in die Freiheit eröffnete.
Die junge Bärin überraschte uns alle, indem sie nicht wie erwartet hastig aus der Box schritt und in den Wald entschwand. Stattdessen saß sie eine Weile nur da und schnüffelte, als ob ihre Nase ihr sagte, dass Menschen in der Nähe seien, aber sie gleichzeitig auch vom Duft ihrer Heimat gelockt würde.
Nach weiteren Minuten des Zögerns ging sie langsam an der rechten Seite der Box entlang in Richtung Wald. Bevor sie in diesem endgültig entschwand, warf sie noch einen letzten, anhaltenden Blick in das Innere ihrer Transportbox. Laub raschelte, Blätter wackelten: Wir beobachteten, wie sie sich immer weiter von unserer Welt entfernte und in die ihre zurückkehrte.
Ich glaube es ist kein einziger Tag vergangen, ohne dass wir an Rainbow dachten: Geht es ihr gut? Hat sie ihre Mutter gefunden? Genießt sie vielleicht gerade die wilden Brombeeren des Waldes? Ist sie glücklich in ihrer eigenen Welt sowie unsere Bären in der ihren?
Unser ganzes Team hat Rainbows Wohlbefinden an erste Stelle gesetzt. Wir haben alles getan, um ihre Freilassung so sanft und sicher wie möglich zu gestalten. Der Rest liegt nun an ihr und ihrem Glück. Sie hat das Leben, in das sie hineingeboren wurde, wieder aufgegriffen – verletzlich, wild und frei.
Tierärztin Sheridan: "Das Gedicht, das wir üblicherweise lesen, wenn ein Bär stirbt, passt auch auf Rainbows Situation – sie war einzigartig, aber sie hat uns nicht gehört. Wir durften uns lediglich um sie kümmern, bis es ihr gut genug ging, um nach Hause zurückzukehren. Dennoch rührt es mich zu Tränen, dies zu schreiben. Denn wir werden nie erfahren, was mit Rainbow passiert ist und was das Leben für sie bereitgehalten hat. Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen ist, dass wir das menschenmögliche für diese kleine Bärin taten, indem wir ihr die zweite Chance auf ein freies Leben gaben. Jetzt ist sie Zuhause, wo sie hingehört.”
Mein grenzenloser Dank gilt allen, die – direkt oder indirekt – dabei geholfen haben, Rainbow erneut die Freiheit zu schenken. Bedanken möchte ich mich zudem bei den Experten Liu Fang (China), John Beecham und Dave Garshelis (beide USA) für ihren Rat und die viele Zeit, die sie uns und Rainbow widmeten.
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